Heute ist der Bahnhof der Stadt Görlitz ein Ort, an dem Tourist:innen aus aller Welt ankommen, um die Europastadt Görlitz-Zgorzelec zu besichtigen. Ebenso ist der Bahnhof ein Ort des Grenzverkehrs zwischen Poilen und Deutschland. Zwischen 1939 und 1945 aber war der Bahnhof ein Ort des unfreiwilligen Ankommens: Oftmals in Viehwaggons erreichten den Görlitzer Bahnhof neben Kriegsgefangenen unterschiedliche Gruppen von Menschen, die als Zwangsarbeiter:innen für das kriegführende deutsche Reich eingesetzt werden sollten.
Ein zeitgenössische Definition von 1930 bestimmt Zwangsarbeit als „jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung von Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.“ (ILO-Übereinkommen der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) Nr. 29 über Zwangs- und Pflichtarbeit, 1930.) Diese Art von unfreiwilliger Arbeit war zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ein omnipräsentes Phänomen: Das kriegsführende Deutsche Reich beschäftigte während der Dauer des Krieges etwa 13 Mio. Menschen auf Reichsgebiet und noch einmal so viele in den okkupierten Gebieten. Insgesamt war es also eine massive Zahl von etwa 26. Millionen Menschen, die europaweit vom Deutschen System Zwangsarbeit betroffen waren.
Wie kam es zu diesem massiven Phänomen? Zwangsarbeit war die Antwort des kriegsführenden Deutschen Reiches auf den sich mit Andauern des Krieges verschärfenden Arbeitskräftemangel. Über die Zwangsverpflichtung Kriegsgefangener, inländischer und ausländischer KZ-Häftlinge sowie Zivilpersonen wurde versucht, die Arbeitskraft der in den Wehrmacht kämpfenden Männer zu kompensieren. Somit war Zwangsarbeit ein bedeutender Faktor für die Wirtschaft: Im Juli 1944 waren ein gutes Viertel der im Deutschen Reich Arbeitenden Zwangsarbeiter:innen.
So heterogen wie die zur Zwangsarbeit verpflichteten Gruppen waren die Einsatzorte, Unterbringungen und Tätigkeiten: Zwangsarbeiter:innen wurden zu schweren Tätigkeiten wie Bergbau und Straßenbau, aber auch in Fabriken und Betrieben, in der Landwirtschaft und sogar in Privathaushalten eingesetzt. Entgegen der Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929, die die Nationalsozialisten ratifiziert hatten, setzte das Deutsche Reich Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter auch in der Rüstungsindustrie ein.
Ähnlich wie der Komplex Kriegsgefangenschaft hat auch der der Zwangsarbeit eine lokale Dimension in Görlitz. Görlitz war während des zweiten Weltkriegs eine Stadt in der massenhaft Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und zivile Zwangsarbeiter:innen registriert, zum Arbeitseinsatz herangezogen und inhaftiert wurden.
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Aus Sicht der nationalsozialistischen bot die schlesische Stadt Görlitz „gute Standortbedingungen“: sie war gute Verkehrsanbindung, die Schlesien mit den meisten deutschen Städten verband. Es gab ferner einen industrieller Schwerpunkt auf der Metallbranche, was für die Rüstungsproduktion bedeutsam war. Die periphere Lage im Osten des Reiches gewährte zudem bis Mitte 1944 eine gewisse Sicherheit vor alliierten Luftangriffen, was Schlesien zum sprichwörtlichen „Luftschutzkeller des Reiches“ machte. Aus allen diesen Gründen eignete sich Görlitz als Transitort für Registrierung und Weiterleitung von ausländischen Arbeiter:innen: Viele ausländische Zwangsarbeiter:innen aus den Deutschen okkupierten und auch mit ihnen verbündeten Ländern kamen nach Görlitz, Kriegsgefangene wurden zur Registrierung zunächst ins Stalag (bzw. Dulag) oder andere Lager gebracht und auf Arbeitskommandos in der gesamten Region verteilt.
Der Bahnhof, an dem die Menschen als Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge oder Zivilpersonen ankamen, um in das deutsche System Zwangsarbeit integriert zu werden, markiert daher historisch für viele Menschen den Anfang einer äußert leidvollen Begegnung mit der Stadt Görlitz. Deswegen ist er Ausgangspunkt der geführten Fahrradtour zur Erkundung unterschiedlicher mit NS-Zwangsarbeit verbundener Orte in der Umgebung.