24 Feb 23 Vor deiner und meiner Haustür findet ein Krieg statt

Evakuierung aus der Stadt Irpin. 5. März 2022.(Foto von
Am 24. Februar ist es genau Jahr her, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Ein Jahr lang haben wir gemeinsam mit den Ukrainern die verschiedenen Etappen dieses schrecklichen Krieges durchlebt. Ein Jahr lang hat die Welt den Atem angehalten.
Die Informationen, die am frühen Morgen dieses Februartages um die Welt gingen, bedeuteten für die Bürger der Ukraine den Zusammenbruch ihres bisherigen Lebens, ihrer Pläne und ihrer persönlichen und familiären Stabilität. Im Februar 2022 begann der barbarische russische Angriff, der niemanden verschonte. Kindergärten und Schulen, Bahnhöfe und Krankenhäuser, Wohnblocks und Kultureinrichtungen sowie staatliche Verwaltungsgebäude werden bombardiert. Die Energieinfrastruktur wird zerstört. Auch Kirchen werden von den Bomben und Raketen nicht verschont.
Für viele ukrainische Bürger hat der Exodus begonnen, einige leben in Notunterkünften oder in den Ruinen, Kellern und U-Bahn-Stationen, die in den Städten als Notunterkünfte dienen.
Die Aggression machte vor keinem Objekt und keiner sozialen Gruppe halt. Nachdem die Invasoren ein Dorf nach dem anderen besetzt hatten, veranstalteten sie grausame Siegerspiele, vergewaltigten und mordeten und zerstörten, was noch überlebte. Bucha, Irpin, Mariupol sind nur einige Beispiele für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die Russen versuchten, die Häfen zu besetzen, um die Lebensmittelversorgung der besetzten Gebiete abzuschneiden. Die Angst um ihr Leben sollte sich mit dem Hungertod verbinden. Die Methoden ähnelten denen der 1930er Jahre. Auch damals umstellten Stalins Gesandte Dörfer und hinderten die ukrainische Bevölkerung daran, an Lebensmittel hernazukommen.

Einschlag einer Rakete in einem Wohnblock in der Stadt Dnipro. (Foto von Evgeniy Maloletka / AP Photo)
Die Welt erstarrte, hielt den Atem an, und dann begann ein heftiger Meinungsaustausch, Diskussionen darüber, wie es weitergehen sollte, ob man sich Russland widersetzen könnte und welche Folgen ein Widerstand haben würde. Der Krieg begann von einer Wirtschaftskrise begleitet zu werden, ausgelöst durch die eingleisige Politik, Teile Europas von russischem Gas abhängig zu machen.
Populisten aller Art sind mobilisiert worden, die russische Propagandamaschinerie hat einen Kurzschluss verursacht.
„Wir sind stark, wir verteidigen die humanitären Werte, die Ukraine ist ein Teil Russlands, die Ukraine ist vom Dämon des Faschismus befallen“, wiederholten russische Demagogen in verschiedenen Sprachen. Selbst in der unmittelbaren Umgebung, in den Familien, gab es Spaltungen. Die Ukraine ist das Gemetzel von Wolhynien, riefen die Bewunderer eines starken Russlands mit donnernder Stimme in Polen.
Zu dieser Zeit kamen Züge mit Kriegsflüchtlingen nach Polen, und der Grenzübergang bei Przemyśl erlebte einen Zustrom von Tausenden von Menschen, meist Frauen mit Kindern. Die Männer blieben im Land und standen der Armee zur Verfügung. Und die Frauen gingen zu Fuß, die Kinder auf dem Arm, an den Händen, mit dem Gepäck, das sie tragen konnten, oft noch mit einem Hund, einer Katze oder einem Meerschweinchen in einem Käfig. Auf den polnischen Bahnhöfen organisierten Freiwillige eilig Verpflegungs- und Informationsstellen für die Flüchtlinge. Auf polnischen Bahnhöfen sprach man zusehends Ukrainisch. In der Zwischenzeit diskutierte die gesamte Welt darüber, wie man helfen könnte. Ich schreibe von der Welt, obwohl wir wissen, dass einige Länder der Erde den Krieg, den Russland seit dem 24. Februar 2022 mit der Ukraine führt, sehr unterschiedlich bewerten und interpretieren. Auch das Nato-Bündnis ist in seinen Grundfesten erschüttert. Es war anfangs kein einstimmiger Chor in Sachen Militärhilfe. Es war ein Abwägen, ob und was sich zu tun lohnt.
Aber die Alliierten stimmten zu und erweiterten ihre Reihen sogar um Schweden und Finnland. Die enorme Hilfe der Amerikaner, Engländer, Franzosen und anderer hat begonnen, in die Ukraine zu fließen. Es werden systematisch Waffen, Panzer, militärische Ausrüstung, Munition, Lebensmittel, Medikamente und Kleidung geliefert. Die ukrainischen Soldaten werden in verschiedenen Ländern im Umgang mit modernen Waffen ausgebildet. Wir können sagen, dass dieser grausame Krieg, den Russland entfesselt hat, die Verteidiger der Demokratie und des Friedens zusammengeführt hat.
Die von dem russischen Diktator ausgehende Bedrohung erforderte und erfordert nach wie vor eindeutige Antworten auf ein Übel, das um jeden Preis gestoppt werden muss.
Dieser Angriffskrieg machte auch generell das Thema Krieg zum Teil des Weltdiskurses ein.
Denn das Thema der Kriege, die im zwanzigsten Jahrhundert die Welt erschütterten, und das Gedenken an ihre Folgen schien in den letzten Jahren ein archaisches Thema zu sein. Es war unmodern. Die Gesellschaft sollte nach vorne schauen, nicht zurück. Die Notwendigkeit, sich an die Katastrophen des Krieges zu erinnern, wurde hauptsächlich von Historikern in ihren geschlossenen Kreisen diskutiert.

Groby w Mariupolu Fot. REUTERS/Alexander Ermochenko
Menschen, die darauf beharrten, dass es noch einen Krieg geben könnte, dass unser europäischer Frieden und unsere Demokratie bewahrt werden müssten, wurden oft belächelt. Schließlich sollte alles in Ordnung sein, die Tragödie des Krieges sollte uns, die Bürgerinnen und Bürger des vereinten Europas, niemals mehr treffen. Afghanistan, Irak und Syrien waren weit weg, und der Bruderkrieg im ehemaligen Jugoslawien war schnell vergessen.

Evakuierte Kinder aus einer Waisenhausschule in der Stadt Hulajpole (Foto: PAP/Vitaliy Hrabar)
Dies änderte sich mit dem 24. Februar 2022.
Als russische Flugzeuge damit begannen, ukrainische Städte und Dörfer zu bombardieren, Panzer das unabhängige Land eroberten und der Diktator im Kreml die Theorie predigte, dass er auf diese Weise die Ukrainer entnazifizieren würde, die seiner Meinung nach kein eigenständiges Volk, sondern Teil seines Reiches seien, konnte man nicht länger die Augen verschließen.
Wir schliefen nicht mehr friedlich. Der Anblick von zerstörten Städten und in Kellern nomadisierenden Menschen, Bilder von der Front erschütterten unseren Frieden. Die Verteidigung von Mariupol und der heldenhafte Kampf der Soldaten des Asow-Regiments erschütterten uns. Und dann gerieten diejenigen, die überlebt hatten, in russische Gefangenschaft, bestiegen Ersatzbusse, die sie ins Ungewisse brachten. Wieder schloss sich der Kreis der Geschichte. Wieder hielten wir den Atem an.
Wieder begannen wir uns zu fragen, was wir tun können, wie wir helfen können, wie wir dem Verbrechen des Krieges begegnen können.
Wenn wir auf dem Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers arbeiten und agieren, wo Zehntausende von Soldaten – Söhne, Väter, Ehemänner – gegen ihren Willen festgehalten, gezwungen wurden, hinter Stacheldraht zu leben und für den Feind zu arbeiten, haben wir eine besondere Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, in der wir leben. Eine Pflicht, zu warnen, zu sensibilisieren, immer wieder die Erinnerung daran zu vermitteln, was Krieg bedeutet und wohin der Wahnsinn einer Diktatur führen kann. Wir wissen nicht, unter welchen Bedingungen die ukrainischen Kriegsgefangenen, die in russische Gefangenschaft geraten sind, heute leben. Gelegentlich finden wir Fotos vom Austausch von Kriegsgefangenen. Dann kann man die Männer sehen, die „ausgetauscht“ wurden. Erschöpft, ausgelaugt, mit Spuren von Folter.
Was geschieht mit den verbliebenen Kriegsgefangenen? Was geschieht in den Lagern, in denen Zivilisten aus den besetzten Gebieten irgendwo in den Tiefen Russlands zusammengezogen wurden? Wir haben keine Informationen, manchmal ein paar Restinformationen. Was geschieht mit den Tausenden von Kindern, die ihren Eltern weggenommen wurden und für die Russifizierung bestimmt sind?
Schrecklich sind die Fragen, schrecklich werden die Antworten sein. Eines Tages, wenn es möglich sein wird, sie zu erhalten.
Als jemand, der an einem Ort arbeitet, der so tragisch vom Krieg gezeichnet ist, bin ich überzeugt vom Folgdenen:
Wir haben die Pflicht, denjenigen zu helfen, die vom Krieg betroffen sind und ihr Zuhause und ihre Heimat verlassen mussten.
Wir haben die Pflicht, uns um die Demokratie zu kümmern und uns den Bestrebungen, sie zu zerstören, entgegenzustellen.
Wir haben die Pflicht, uns dem Vergessen zu widersetzen
Kinga Hartmann